Leseprobe "Der Maskenmörder von London"
Kapitel "Ferrantes Flug"
Es knarrte wieder bedenklich, als sich am gemalten Horizont die hölzernen Wolken auftürmten. Räder und Seilzüge setzten sich
in Bewegung. Nur ab und zu hörte man die schnellen Schritte der Gehilfen im Hintergrund, denn trotz der schlechten Akustik
im Theater füllte Amorellis Stimme jeden Winkel. Weitere Sänger erschienen auf der Bühne, außerdem ein paar knabenhafte
Tänzer.
Lucius begann schon die Schleifen der rosa Dame zu zählen. Bei achtzehn schreckte ihn Isobel auf, indem sie ihm einen
Stoß in die Rippen versetzte.
"Jetzt kommt die Arie! Seine berühmte Arie! 'Der Flug des Ikarus'! Er singt sie im Duett mit Ferrante. Von Ferrante habe ich
dir ja erzählt – er arbeitete bis vor vier Wochen noch in Händels Theater, der Prinz hat ihn abgeworben."
Lucius konzentrierte sich wieder auf das Bühnengeschehen. Oh ja, an die Geschichten über Ferrante erinnerte er sich. Ein eitler
Sänger, der die waghalsigsten Auftritte ausführte. Und auch heute machte er keine Ausnahme. Er stand auf dem Felsen, eine
goldene Schärpe um seine Hüfte kaschierte das Seil, das ihn mit einer Winde verband. Er stellte den Ikarus dar. An seine
Arme waren Flügel geschnallt, die er nun in einer einstudierten Geste schwang. Es mussten tausende von Federn sein, die
silbern und blau eingefärbt und dann an dem Holzgestell befestigt worden waren. Ferrante setzte zu seiner Arie an. Lucius
tat er beinahe Leid. Im Vergleich zu Amorelli konnte der Sänger nur verlieren. Amorelli fiel in die Melodie ein.
Irgendwo in der Galerie zückten Zeitungsschreiber ihre Federn. Es war ein Sängerwettstreit ohnegleichen. Mehrere Damen und
auch Herren fielen in Ohnmacht. Isobel presste ihr spitzenbesetztes Taschentuch an die Lippen. Lucius schielte auf das
Programm und atmete erleichtert auf – das war das vorletzte Lied, danach würde Amorelli die Abschlussarie des ersten Aktes
singen.
Eine Winde begann zu quietschen, Ferrantes Sicherungsseil spannte sich. Führungsseile, die Lucius kaum erkennen konnte,
wurden straff. Dann ging ein bewunderndes Murmeln durch den Bühnenraum. Mit ausgebreiteten Flügeln erhob sich Ferrante
und flog! Eine Schiene führte das Seil im Halbkreis über das Publikum und das Orchester. Nun blieb selbst Lucius der
Mund offen stehen. Er hätte wetten können, dass der Sänger bei diesem Kunststück unter seiner Schminke erbleicht war –
seiner Stimme aber merkte man nichts an. Er war Ikarus und flog singend übers Meer, der Sonne entgegen. Lucius' scharfem
Blick entging dennoch nicht, dass Ferrante mit seiner linken Hand eine Mechanik im Flügelgestell betätigte. Auf einen
Schlag lösten sich alle Federn und schwebten wie ein flirrender Regen auf das Publikum nieder. Die Leute sprangen auf,
wer Glück hatte, fing ein solches Andenken aus der Luft, während Ikarus schließlich programmgemäß abstürzte. Das
geschah allerdings so abrupt, dass die Zuschauer erschrocken herumfuhren. Ein Gepolter ertönte. Die kräftigen Diener,
die in der Nähe der Bühne standen, damit kein Verehrer dem Sänger zu nahe kam, blickten sich verwirrt um. Lucius sprang
auf. Im Hintergrund sah er gerade noch, wie ein loses Seil über den Boden schleifte und zwischen zwei Wellen
verschwand. Für einen Augenblick herrschte Stille, dann wurde eilig ein Prospekt mit aufgemalter Landschaft heruntergelassen,
der die Wellen verdeckte. Kurbeln quietschten. Unruhe breitete sich aus.
"Was ist passiert?", flüsterte Isobel.
"Eine hölzerne Wolke ist vom Himmel gefallen und hat eine Welle beschädigt", erwiderte Lucius. Amorelli trat an den vorderen
Bühnenrand, gab dem Orchester ein Zeichen und stimmte das letzte Lied an.
"Oh, dieser Teufel von Operndirektor!", erboste sich Isobel. "Dieser Thomas Foster! Das hat er geplant. Wie kann er uns einen
solchen Schreck einjagen! Es war alles arrangiert!" Befreit lachte sie und fiel in den allgemeinen Applaus ein. Lucius
verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Die fallende Wolke, da war er sich sicher, war nicht geplant gewesen.
Amorellis letzter Ton verklang. Der Sänger verbeugte sich tief vor seinem Londoner Publikum. Dann brach der Sturm
los: Blumensträuße flogen Amorelli entgegen. Ringe und Taschentücher, in die Goldmünzen eingebunden waren, regneten auf
das Podium und blieben neben Amorellis Schuhen liegen. Natürlich hob der Künstler die Schätze nicht selbst auf –
das machten die Theaterdiener. In dem Trubel schien niemandem aufzufallen, dass Ferrante nicht zur Abschlussverbeugung
erschien.
Lady Isobel sprang auf und holte einen versiegelten Umschlag hervor, den sie Lucius in die Hand drückte. Dann zog sie
sich noch einen Rubinring vom Finger.
"Los, schnell!", befahl sie. "Geh zu den Künstlerräumen und überbringe ihm die Einladung und den Ring, solange die ganzen
Idioten hier noch klatschen! Den Weg habe ich dir ja beschrieben. Und komme mir nicht ohne seine Zustimmung zurück!"
"Sehr wohl, Mylady!" Lucius verbeugte sich übertrieben tief, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus der Loge. Es tat
gut, sich endlich bewegen zu können! Leider war er nicht der Einzige, der den Applaus nutzte um sich einen Vorsprung zu
verschaffen. Schon an der ersten Tür drängte sich eine Traube von Menschen. Puderstaub lag in der Luft. Ein fuchtelnder
Theaterdiener stand an der Tür und versuchte vergeblich die Leute zurückzudrängen. "Ladies! So warten Sie doch!", flehte
er. Eine Dame in blauer Seide riss ihm wutentbrannt die Perücke vom Kopf – und schon war ein Handgemenge in Gang. Der
Tumult war Lucius' Chance. Rasch drückte er sich hinter dem Diener vorbei und eilte weiter. Im Künstlertrakt roch es
nach Ruß und altem Holz. Die Bühnenarbeiter musterten ihn verwundert, als er zu den Gemächern stürmte. Aber auch hier
war er nicht der Erste.
Eine seltsame Versammlung stand am Ende des Flurs: Geschminkte Tänzer und vereinzelte Bühnenarbeiter blickten verstört
drein. Etwas abseits von ihnen diskutierte Lord Foster, der Direktor der Adelsoper, mit einigen Herren, die ihrer
Aufmachung nach zu Prinz Fredericks Gefolge gehörten.
Lucius zögerte. Etwas stimmte hier nicht – Lord Foster war blass, sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Doch die Opernbesucher,
die sich aufgeregt vor dem Künstlerzimmer drängten, kümmerten sich nicht um die Gruppe. Entzückensschreie hallten von den
Wänden wider, als Amorelli auf den Flur trat. Diener hatten ihm bereits einen Samtmantel um die Schultern gelegt und
geleiteten ihn zur Garderobe. Zwischen den aufgeregten Leuten in ihren zerknitterten Roben wirkte er wie ein überirdisches
Wesen. Doch er würdigte die Menge keines Blickes. Die Theaterdiener versuchten ihn vor den ausgestreckten Händen zu
schützen. Einer der Diener, dessen faltiges Gesicht mit den großen Tränensäcken an einen traurigen Hund erinnerte,
schien sich jedoch mehr für Lord Foster zu interessieren. Lucius beobachtete, wie der alte Mann stehen blieb und
fassungslos zum Schnürboden hinaufblickte.
"Pardon, Monsieur!" Bevor Lucius wusste, wie ihm geschah, spürte er einen unsanften Knuff und stolperte fast, als sei
ne Beine im Stoff eines Rockes verfingen. Rosa Stoff. "Pardon!", zischte ihm die unhöfliche Dame noch einmal zu, aber
diesmal klang es erst recht wie ein Schimpfwort.
"Stellen Sie sich gefälligst hinten an!", knurrte Lucius und verstellte ihr den Weg. Die Dame machte eine unwillige
Handbewegung – und sofort erschien der alte Theaterdiener.
"Bitte lassen Sie die Lady durch. Wie Sie sehen, möchte sie zum Künstlerzimmer."
"Da wollen wir alle hin", gab Lucius zurück und rührte sich nicht.
Jetzt stieß die Frau einen französischen Fluch aus, den Lucius nicht verstand, und versuchte sich an ihm
vorbeizudrängen. Sie war erstaunlich kräftig, doch Lucius bekam ihren ärmel zu fassen. Der Stoff riss, dann hatte er
plötzlich eine Schleife in der Hand. Sie war rosa, gesäumt von einem silbernen Zierband. Hinter der weißen Maske der
Frau nahm Lucius ein wütendes Funkeln wahr. "Idiot!", fauchte die Fremde, riss ihm die Schleife aus der Hand und
rannte auf die Gruppe zu, die sich nun um den Sänger drängte wie ein Bienenschwarm um die Königin. Die Stimme der rosa
Dame hörte Lucius im Johlen der Menge zwar nicht, aber ihre geschminkten Lippen formten deutlich immer wieder ein
Wort: "Amorelli!" Dabei schwenkte sie die Notenblätter, die sie in der Hand hielt. "Bitte! Eine Unterschrift!", brüllte
eine Frau neben Lucius. Die Theaterdiener drängten die Leute nun mit Gewalt zurück. Jeden Augenblick konnte das Handgemenge
in eine Schlägerei ausarten.
Der Sänger hatte sich inzwischen zu seinem Raum vorgekämpft. Nicht ohne Genugtuung sah Lucius, wie er missmutig abwinkte,
als die Frau in Rosa ihm die Blätter zum Signieren hinhielt. Im nächsten Augenblick klappte die Tür hinter ihm
zu. Inzwischen war auch Lord Foster vorgetreten und hob beschwichtigend die Hände. Schweißtropfen rannen ihm über das
Gesicht und sammelten sich über seiner Oberlippe. "Ladies! Gentlemen! So beruhigen Sie sich doch! Der Künstler muss sich
während der Pause ausruhen. Gedulden Sie sich bis nach der Vorstellung. Ich versichere Ihnen, Sie werden noch genug
Gelegenheit haben, unseren italienischen Stern zu …"
Eine Welle von Buhrufen schnitt ihm das Wort ab. Eine Frau begann zu schluchzen. Erst als einige der kräftigen Bühnenarbeiter
zu Hilfe geholt wurden, zog sich die Meute murrend zurück. Die Frau in Rosa stand reglos da und presste die Notenblätter an
sich. Ihren Gesichtsausdruck konnte Lucius wegen der Maske nicht sehen, aber sie wirkte, als würde sie den ganzen Stapel
Notenblätter vor Enttäuschung am liebsten gegen die geschlossene Tür des Künstlerzimmers werfen. Der alte Diener trat zu
ihr und flüsterte ihr etwas zu. Verstohlen deutete er nach oben zum Schnürboden. Heftig schüttelte sie den Kopf und
wechselte ein paar schnelle Worte mit dem Alten. Lucius versuchte sich näher heranzudrängen, doch er sah nur noch, wie
sie sich abrupt umdrehte und hinter die Bühne eilte. Anscheinend kannte sie sich im Theater aus.
Inzwischen sammelten Theaterangestellte die Einladungsbriefe und Geschenke für den Sänger ein. Lucius trat zu dem alten
Diener und legte das Schreiben seiner Tante, dem er auch den Rubinring beigelegt hatte, in den kleinen Silberkorb des
Mannes. Die Briefe im Korb raschelten, so sehr zitterten die Hände des Theaterdieners. Unter Lucius' Blick senkte er
den Kopf.
"Wer ist die Dame, mit der sie eben gesprochen haben?"
Der Mann schüttelte etwas zu heftig den Kopf. "Bedaure, Sir, ich kenne sie nicht. Die Dame ist ... incognito."
„Sie sprechen also unbekannte Damen an?“, sagte Lucius freundlich.
Der Diener schluckte. „Ich habe ihr nur gesagt, dass sie sich nicht unter den Schnürboden stellen soll – an dieser Stelle
rieselt oft öliger Schmutz von der Winde herunter. Der hätte ihr Seidenkleid ruiniert“, murmelte er und beeilte sich
weiterzugehen.
Lucius kniff die Augen zusammen. Er mochte zwar von höfischer Konversation keine Ahnung haben, aber eine Lüge erkannte
er sofort, wenn er sie hörte. Unauffällig zog er sich in den Schatten einer Tür zurück und wartete. Erst als das Gezeter
sich entfernt hatte, trat er noch einmal an den Diener heran. Der alte Mann fuhr erschrocken herum.
„Was ist passiert, als die Wolke aus der Kulisse fiel?", fragte er.
"Nichts, Sir", murmelte der Diener. "Es ist alles in Ordnung. Ich … werde dafür sorgen, dass Mr. Amorelli Ihre Einladung
und den Ring erhält." Hastig verbeugte er sich und eilte davon. Lucius sah zum Schnürboden hoch. Eilige Schritte knarrten
über seinem Kopf. Eine Tür klappte. Lucius schlich den Gang entlang und spähte um die Ecke. Die rosa Dame war nirgendwo
zu sehen, aber auf einer Trage, die neben einer hölzernen Trennwand abgestellt worden war, lag ... ein Körper. Er war
mit einem großen Tuch bedeckt. Dort, wo der Kopf sein musste, zeichnete sich ein roter Fleck ab. Ein Ellenbogen ragte
unter dem Tuch hervor und weiter unten ein Fuß. Lucius erstarrte und schnappte nach Luft. Selbst von hier aus erkannte
er das silberblaue Theatergewand und den schleifenverzierten Schuh mit hohem Absatz. Ferrante! Doch mehr als der Anblick
des verhüllten Körpers erschreckte Lucius das abgeschnittene Seil, das auf dem Boden lag.
c) Verlag Sauerländer, 2007
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