Leseprobe "Der Spiegel der Königin"
Das Medaillon war überraschend klein. Die Blütenblätter waren so filigran, dass Elin fürchtete, sie durch eine unachtsame
Bewegung zu zerdrücken. Behutsam hakte sie den verbogenen Verschluss vom Stoff los, nahm das Schmuckstück an sich und
schlich so schnell und so leise sie konnte aus dem Zimmer.
In ihrer heißen Hand pochte es, als hielte sie ein Herz aus Gold umschlossen. Ohne auf die verwunderten Blicke der Lakaien
zu achten, rannte sie über die Flure. Nun musste sie so schnell wie möglich zu Victor! Endlich kam der dunkelgrüne Vorhang
in Sicht. Schon von weitem erkannte Elin die Stelle, an der der Samt eine schräge Falte warf. Mit flinken Händen tastete
sie unter den Saum und fand ihre Schürze. Der Vorhangstoff fiel schwer auf ihre Schulter. Sie versuchte ihn mit einer
unwirschen Bewegung abschütteln, aber es wollte ihr nicht gelingen. Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und kippte in
der Hocke um. Irritiert blickte sie auf zwei bestrumpfte Beine. Der Griff an ihrem Oberarm verstärkte sich, bis er
schmerzte. Olofs Gesicht sah gar nicht mehr freundlich und hübsch aus.
„Was hast du hier verloren?“, zischte er sie an. "Na warte, wenn Greta dich in die Finger bekommt!" Elin stemmte sich gegen
den harten Griff, zog das linke Knie an den Körper und trat Olof gegen das Schienbein. Sein Aufschrei gellte ihr noch im
Ohr, als sie sich längst aufgerappelt hatte und zur Treppe floh. Aber sie hatte nicht mit seiner Schnelligkeit gerechnet.
Kurz vor der Treppe erreichte er sie und packte sie am Kragen. Elin wirbelte herum. Der Stoff ihrer Jacke würgte sie, aber
es gelang ihr, sich unter Olofs Arm umzudrehen und sich aus dem Griff zu winden. Wenn er sich nicht die Finger verdrehen
wollte, musste er sie loslassen. Plötzlich erstarrte der Tischdiener.
„Was hast du da?“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die goldene Kette an, die zwischen ihren Fingern hervorbaumelte.
„Das Medaillon! Du hast es also gestohlen!“
Elin riss sich mit aller Kraft los. Wie sie richtig vermutet hatte, war Olof viel zu besorgt um seine Finger und seine
makellose Livree, als dass er sich auf ein ernsthaftes Gerangel eingelassen hätte. Im Laufen sah sie sich nach ihm um.
Sie wunderte sich, dass er sie nicht verfolgte. Der Diener stand nur da, mit offenem Mund und einem törichten
Gesichtsausdruck. Er sieht gar nicht mich an, schoss es Elin durch den Kopf. Im selben Moment prallte sie gegen eine
Schulter. Ein schwerer Rock wickelte sich um ihre Beine und ließ sie straucheln. Mit einem Keuchen stürzte sie zu
Boden. Der Duft von gewachstem Holz stieg ihr in die Nase. Elin stützte sich auf den Händen ab und schnellte hoch.
Flüchtig blickte sie in zwei empörte blaue Augen, dann nagelte eine tiefe, ungehaltene Stimme sie fest.
„Haltet sie!“ Elin wusste nicht, woher die zwei Gardisten plötzlich aufgetaucht waren. Grobe Hände packten sie. „Los,
hierher zu mir!“ Im schwachen Licht des Gangs glänzte unheilvoll das Eisen der Langwaffen. Die anderen Soldaten traten
zur Seite und gaben den Blick frei auf eine zornige junge Frau. Sie war kaum größer als Elin, aber die Wut verlieh ihr
eine Aura aus Blitz und Donner. Ihre Augen sprühten vor Wut. Der Griff um Elins Arm lockerte sich, dafür spürte sie jetzt
einen groben Kniff in der Seite.
„Verbeuge dich vor der Königin“, raunte einer der Gardisten ihr zu. „Los, runter mit dir!“
Sie hatte Königin Kristina umgerannt? Mehr aus Schreck als aus Gehorsam klappte sie in einem tiefen Knicks zusammen. Sie
war verloren. Dafür würde der Henker sie holen! Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Also?“, fuhr die Königin sie an. „Was zum Teufel treibst du hier?“
Elin brachte vor Schreck kein Wort heraus, dafür verbeugte sich Olof mit einem Lächeln und trat vor.
„Erlauben Sie mir, es zu erklären, Ihre Majestät. Das Mädchen hat das Medaillon. Unter dem Vorhang dort hinten hatte sie es
versteckt. Vermutlich wollte sie es holen, bevor ein Diener es findet.“
Ein Raunen und Flüstern schwoll um Elin herum an. Mit einem Mal schien sich das halbe Schloss auf dem Gang versammelt zu
haben. Brokatgewänder raschelten, Degen klirrten. Goldschmuck und weiße Spitzenkragen leuchteten im flackernden Licht der
Wandkerzen. Und mitten unter diesen Edelleuten stand wirklich und wahrhaftig die Königin! Das hellbraune, lockige Haar
hatte sie eher nachlässig hochgesteckt, kein einziges Schmuckstück funkelte auf ihrer Haut. Sie war nicht einmal besonders
hübsch. Dafür war ihre Nase zu lang und außerdem ein wenig gebogen und ihr Gesicht nicht weich genug.
„Hast du Ebbas Medaillon?“, richtete die Königin das Wort an Elin.
Zögernd streckte Elin die Hand aus. Es tat weh, die verkrampften Finger zu öffnen.
„Meine Rose!“ Nachtblauer Brokat leuchtete auf. Wenn Madame Joulain Elin hübsch wie der Mond erschienen war, dann war Ebba
Sparre die Sonne. Ihre Augen, die sanft und ein wenig traurig waren, leuchteten vor Freude auf, als sie das Medaillon
behutsam an sich nahm. Auf Elins Handfläche blieb ein schwacher Abdruck der goldenen Rose zurück.
„Wo hast du sie her?“, fragte die junge Hofdame.
„Ich habe sie gefunden.“
„Wo?“
„Bei ... Madame Joulain.“
Ein Lachen wurde laut, die Damen tuschelten. Ihre Majestät schien die Antwort allerdings nicht so lustig zu finden. Elin
beobachtete sie wie ein zum Tode Verurteilter seinen Henker.
„Steht nicht herum“, sagte Königin Kristina. „Bringt sie in die Kanzlei!“
Der Gardist packte Elin wieder am Oberarm und zerrte sie den Gang entlang. Die Türen und Vorhänge flogen an Elin vorbei,
ohne dass sie sie richtig wahrnahm. über eine Treppe ging es hinauf, in einen viel prächtigeren Teil des Schlosses. Reich
bestickte Wandteppiche zeigten Jagdszenen und sonnige Landschaften. Diener öffneten die Türen zu einem Raum, der so riesig
war, dass Elin im ersten Augenblick vor Staunen ihre Angst fast vergaß. Bis zu den Decken erstreckten sich Regale mit
Büchern, es roch nach Leder und Holz. Unter Elins Füßen knarrte Parkett, das sich durch die Kälte des Winters verzogen
hatte. In der Mitte des Raumes befanden sich ein wuchtiger Schreibtisch und eine Reihe von Stühlen. Ein kleinerer Tisch,
gerade groß genug für einen Schreiber, stand am Fenster. Mit wenigen Schritten war Königin Kristina hinter dem Schreibtisch
und nahm Platz. Sie läuft nicht wie eine Königin, dachte Elin. Zwei Diener beeilten sich, den Lüster über eine Seilwinde
von der Decke herunterzulassen und die Kerzen darauf zu entzünden. Leise schlugen die Kristalle gegeneinander und klingelten
wie Glöckchen an einem Winterschlitten.
„Also“, sagte die Königin. „Ich höre. Wer bist du und was hast du mit dem Medaillon zu tun?“ Hinter dem riesigen Tisch
sah Königin Kristina eher wie ein unwilliges Mädchen aus. Sie wirkte viel jünger als die dreiundzwanzig Jahre, die sie
zählte. Elin versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben in ihrem Mund kleben wie mehliger Brei. Die Höflinge sahen
sie erwartungsvoll an, aus ihren Blicken sprach Neugier, aber auch Verachtung und Mitleid. Hier, vor dieser Mauer aus
schweigenden Gesichtern, spürte Elin ihre Armut wie einen nassen Mantel an sich kleben.
„Sie heißt Elin Asenban und ist seit einigen Wochen Scheuermagd“, meldete sich Olof mit einem kriecherischen Lächeln
zu Wort. „Heute ist sie aus der Küche weggelaufen und ...“
Die Tür schwang auf und alle Blicke wandten sich dem Eintretenden zu. Elin biss sich auf die Lippe. Kester Leven, der
Sekretär des Bischofs! Heute war die Zornesfalte, die seine Stirn furchte, noch tiefer als sonst.
„Ihre Majestät“, sagte er und verbeugte sich tief. „Ich hörte, Sie haben den Dieb aufgespürt.“ Noch während er sich
wieder aufrichtete, fand sein Blick Elin.
„Sieh an, Elin von den Gudmundshöfen.“
„Noch ist überhaupt kein Diebstahl geschehen“, entgegnete die Königin.
„Aber ich habe sie erwischt!“ Rote Flecken leuchteten auf Olofs Wangen. Die Königin hob die Hand.
„Ich pflege mir immer alle Seiten anzuhören“, sagte sie. „Im Reichstag in Stockholm sprechen alle Stände, bevor ein Urteil
gefällt wird. Zwei Leute glauben bereits, dass ein Diebstahl geschehen ist. Aber das Mädchen hat noch kein einziges Wort
gesagt. Also, Elin Ansgarsdotter, hast du das Medaillon gestohlen?“
Elin schüttelte den Kopf.
„Hast du deine Zunge verschluckt?“, fuhr Kester Leven sie an.
„Nein“, brachte Elin kaum hörbar hervor.
„Die Herren hier wirst du schwerlich nur mit einem Wort überzeugen“, sagte die Königin. „Verteidigen musst du dich schon
selbst, wenn es kein anderer für dich tut. Also, erzähle uns die ganze Geschichte.“
Ebba Sparre, die schräg hinter der Königin stand, nickte und lächelte ihr aufmunternd zu. Vielleicht war es dieses Lächeln,
das die Starre in Elins Kehle löste. Mit einem Mal war sie wütend auf all die Leute, die sie so unverhohlen anstarrten, als
wären sie Jäger und Elin der Wolf, den sie in die Enge getrieben hatten. Sie hob den Kopf.
„Ich habe das Medaillon gesucht“, begann sie. „Fräulein Sparre trug kein Nackentuch im Schloss, obwohl es so kalt ist. Aber
heute Mittag, als sie mit dem französischen Gast im Park spazieren ging, hatte sie sich eines umgelegt. Deshalb habe ich
Victor gefragt, ob er das Tuch nach dem Spaziergang in die Kleiderkammer gebracht hat. Er sagte mir, dass Madame Joulain
es ausbessert. Nun, dann bin ich eben zur ihr gegangen und habe ihr den Beinwärmer gebracht.“ Ihre Hände zitterten, als
sie in der Luft nachzeichnete, was sie gesehen hatte. „Dort lag das Tuch in einem Korb – und darin war, wie ich vermutet
hatte, das Medaillon.“
„Jemand hat das Medaillon also im Korb versteckt?“, fragte Leven streng.
„Nein ... ich denke, es ist versehentlich dort hineingeraten. Der Verschluss hatte sich schon während des Spaziergangs in
einer der Stickereien verhakt. Das passiert sehr leicht. Und wenn es kalt ist, verliert man zudem das Gefühl auf der Haut
und merkt nicht, wenn die Kette sich öffnet. Der Hakenverschluss war nur ein wenig verbogen, aber der Spalt war groß genug,
um den Verschlussring hindurchgleiten zu lassen. Niemand hatte es bemerkt, auch Fräulein Ebba nicht, als sie das Tuch
ablegte.“
„Woher wusstest du, dass es Ebbas Tuch war?“
„Ein Student hat es mir beschrieben.“
„Und woher weiß jemand wie du so viel über Ketten und Verschlüsse?“,
insistierte der Sekretär mit scharfer Stimme.
„Frau Gudmund ist einmal etwas ähnliches passiert.“
„Der Haken war tatsächlich bereits ein wenig verbogen“, sagte Ebba. „Ich wollte ihn längst wieder richten lassen.“
„Und warum hast du das Medaillon an dich genommen?“, bohrte Kester Leven weiter.
„Um es Victor zu bringen. Er sollte sagen, dass er es gefunden hat. Dann ...“
„Was dann?“
Die Königin lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
„Dann ... wäre Emilia nicht mehr verdächtigt worden.“
„Emilia?“
„Die finnische Küchenmagd“, erklärte Kester Leven. „Sie stammt ebenfalls aus Gamla Uppsala und kannte die Tante des
Mädchens, als diese noch lebte. Kürzlich ist sie Witwe geworden. Wir haben ihr Geld aus der Armenkasse gegeben.“
Elin holte tief Luft.
„Die in der Küche verdächtigen sie, das Medaillon gestohlen zu haben.“
„Und du dachtest, wenn du das Medaillon findest, kannst du diesen Vorwurf entkräften“, stellte die Königin fest.
Elin nickte.
„Ihr Mann ist vor ein paar Wochen auf einem deutschen Schlachtfeld erschossen worden“, sagte sie. „Sie hat alles verloren,
was sie hatte. Ihre zwei kleinsten Kinder musste sie bei Nachbarn in Gamla Uppsala lassen. Emilia darf ihre Arbeit nicht
verlieren, sonst ...“
Sie verstummte und hob den Blick. Die Königin sah sie aufmerksam an. Im Raum war es so leise, dass Elin sich einbildete,
die Schneeflocken zu hören, die gegen die Fenster geweht wurden.
„Ich verstehe“, sagte die Königin nach einer langen Pause. „Aber warum hast du denn nicht einem Lakaien erzählt, wo du
das Medaillon vermutest und ihn die Suche in die Wege leiten lassen? Es war sehr waghalsig, in Madame Joulains Gemach zu
schleichen. Du hättest erwischt werden können, dann wärst du es, die jetzt keine Arbeit mehr hätte.“
Darauf fiel Elin keine Antwort ein. Kester Leven sah sie streng an, als hätte er das Urteil über sie bereits gesprochen.
Olof trat vor.
„Ich weiß, warum sie es getan hat. Weil sie aus der Küche weglaufen wollte. Sie ist eine Unruhestifterin und sie drückt
sich vor der Arbeit.“
„Bekommt sie deswegen Prügel? Ihre Wange sieht aus, als hätte man ihr einen Fausthieb versetzt.“ Die Frage brachte den
Diener sichtlich aus der Fassung.
„Sie ist gestolpert und in einen Stapel mit Holzscheiten gefallen“, antwortete er. „Sie ist ... ungeschickt.“ Er warf
Elin einen warnenden Blick zu. Für einen Moment war es, als könne sie seine Gedanken lesen. Er würde alles tun, um Greta
zu schützen. Elins Wort stand gegen seins.
Die Stimme der Königin war unerbittlich.
„Stimmt das, Elin?“
Elin ballte ihre Hände zu Fäusten und funkelte Olof an.
„Nein“, erwiderte sie laut und deutlich. „Greta die Köchin hat mich verprügelt.“
Die Königin zog eine Braue hoch und legte die Fingerspitzen aneinander.
„Was sagst du nun, Olof?“
Der Diener fletschte die Zähne zu einem misslungenen Lächeln.
„Mag sein, dass die Köchin ihr eins übergezogen hat“, räumte er ein. „Aber nicht zu Unrecht, das Mädchen ist verstockt und
unverschämt.“
„Das stimmt nicht!“, sagte Elin. „Ich bin nicht unverschämter als Ida oder Maditt.“
„Und warum schlägt Greta dich dann?“, bohrte die Königin weiter. „Was hast du getan, Elin?“
„Nichts. Ich ... bin nur nicht die richtige Person.“
„Und wer wäre die richtige Person?“
„Gretas Tochter. Greta hat fest damit gerechnet, dass sie für die Zeit des königlichen Besuchs in der Küche aushelfen
kann, aber der Herr Sekretär hat stattdessen mich aus der Küche des Bischofs geholt.“
„Ich verstehe“, sagte die Königin. Ebba Sparre räusperte sich, beugte sich zu Königin Kristina und flüsterte ihr etwas
ins Ohr.
„Wie heißt Gretas Tochter?“, wandte sich die Königin an Olof. Das Gesicht des Dieners war von einer flammenden Röte
überzogen, auch wenn er immer noch das verzerrte Lächeln zu Schau trug.
„Annagrit Lund.“
Die Königin nahm ein Blatt, griff zur Schreibfeder und tauchte die Spitze in die Tinte. Gespannt verfolgten alle im
Raum, wie sie einige schwungvolle Worte schrieb, während sie weitersprach.
„Nun, nichts ist wichtiger, als die richtigen Personen an den richtigen Stellen zu wissen – das ist im Staatsdienst so,
und nicht anders in der Küche. Kannst du reiten, Elin?“
Elin glaubte, sich verhört zu haben, aber an den verblüfften Gesichtern der Anwesenden erkannte sie, dass die anderen
dieselbe Frage vernommen hatten.
„Nein“, antwortete sie. „Aber auf Gudmunds Hof habe ich oft dabei geholfen, die Pferde anzuschirren.“
Die Königin lächelte und wandte sich an Kester Leven.
„Wenn der Herr Bischof nichts dagegen hat, wird ab jetzt Annagrit Elins Platz in seiner Küche einnehmen. Ich bin sicher,
sie wird diese Stelle weitaus besser ausfüllen, denn wie Olof teile ich die Meinung, dass Elin in der Küche nicht an der
richtigen Stelle ist.“
Elin schloss für einen Moment die Augen. Aus, vorbei. Sie hatte ihre Arbeit verloren. Man rannte nicht ungestraft die
Königin um. Würden die Gardisten sie nun in den Kerker schleppen? Mit einer anmutigen Geste streute die Königin Sand
auf das Papier, um die noch feuchte Tinte zu fixieren, stand schwungvoll auf und überreichte das Schreiben dem Sekretär.
„Seien Sie so freundlich und überreichen Sie diese Bitte dem Bischof. Sagen Sie ihm, ich möchte diese Angelegenheit heute
Abend mit ihm besprechen.“
Kester Leven nahm das Papier mit einer Verbeugung entgegen.
„Natürlich, Ihre Majestät“, murmelte er. „Sie haben eine gute Entscheidung getroffen. Ich selbst habe den Fehler gemacht,
Elin aus Barmherzigkeit die Stelle zu geben, für die Annagrit viel besser geeignet ist. Ich werde sie heute noch in die
Bischofsresidenz zurückschicken. Es ist sicher in Ihrem Sinne, wenn ein armes Christenkind ...“
„Oh nein!“, rief Kristina. „Sie haben mich nicht richtig verstanden. Jemanden, der seinen Verstand so gut zu gebrauchen
weiß und dabei auch noch so viel Wagemut zeigt, kann ich besser in Stockholm gebrauchen als hier in der Küche.“
Das Lächeln des Sekretärs gefror. Elin schlug die Hand vor den Mund und starrte die Königin an. Ebba Sparre lächelte.
Kester Leven sah mit einem Mal so aus, als hätte er Honig erwartet und Essig bekommen.
„Aber Majestät“, wandte er zähneknirschend ein. „Sie wissen nichts über sie. Sie ist ... ein Hurenkind. Ihr Vater war
ein schwedischer Soldat und seine deutsche Buhle starb auf einem Schlachtfeld, noch bevor die Tochter zwei Jahre alt
war. Er ließ den Bastard nach Schweden zu seiner Schwester bringen. Als diese starb, nahm die Familie Gudmund sie auf,
bis ihr Vater heimkehren würde. Nur holte er sie dort nie ab, weil er ebenfalls starb. In ihrer Güte zogen die Gudmunds
das Kind auf. Und als ihr Erbe als Unterhaltsgeld aufgezehrt war und die Familie Gudmund keine Mittel mehr hatte, um
ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bat ich den Herrn Bischof, sie aufzunehmen – für diesen einen Winter, bis sie
sich selbst in der Stadt verdingen kann. Wie Sie wissen, war ich früher Pfarrer in Gamla Uppsala und kenne die
Familien dort gut. Aber ich ahnte nicht, dass dieses Mädchen so ... undankbar ist.“
Elin ballte ihre Hände zu Fäusten und kämpfte gegen die Tränen an.
„Ich bin nicht undankbar “, entfuhr es ihr. „Und wer auch immer meine Mutter
gewesen ist, sie hat an genauso Gott geglaubt wie Sie.“ Die plötzliche Schärfe ihrer Worte wurde ihr erst in dem Moment
bewusst, als sie den Satz aussprach. Unwillkürlich zog sie die Schultern hoch. In Gudmunds Haus hätte sie für eine solche
Unverschämtheit eine Ohrfeige eingesteckt.
„Also zur Hälfte eine Hure und zur Hälfte ein Soldat“, erwiderte die Königin trocken. „Sicher nicht die schlechteste
Mischung, um sich durchs Leben zu schlagen. Und ehrlich ist sie auch. Was man nicht von allen hier behaupten kann.“
Olof blickte zu Boden.
„Elin Asenban hat das Medaillon nicht gestohlen“, verkündete die Königin. „Meine liebe Freundin Ebba ist ihr sehr dankbar,
dass sie das Schmuckstück wiedergefunden hat. Ich verlasse mich darauf, dass Emilia nicht länger verdächtigt wird und dass
Elin morgen Früh in der Eingangshalle wartet und zur Reise bereit ist.“ Sie lehnte sich zurück und blickte sich in der
Runde um. „Wir haben unsere Gäste lange genug warten lassen, denke ich. Gehen Sie schon voraus!“ Auf ihren Wink zogen sich
die Höflinge zurück. Ihr Getuschel und Gekicher war noch lange im Gang zu hören. Der Sekretär warf Elin noch einen drohenden
Blick zu, machte nach einer zackigen Verbeugung auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.
„Ich danke dir!“, rief Ebba Sparre der Königin zu. „Ich wusste, dass die Kleine unschuldig ist. Du hast klug entschieden!“
„Freu dich nicht zu früh, Belle“, entgegnete die Königin. „Wenn ich sie richtig einschätze, werden wir auf Tre Kronor noch
genug ärger mit ihr haben.“
Tre Kronor! Beim Gedanken an das Schloss zu Stockholm wurde Elin schwindlig. Emilia erzählte jede Nacht davon – in
Stockholm waren alle Häuser schön und sauber, die vergoldeten Giebel blendeten jeden, der zu ihnen hochsah, die
Arbeit war leicht und die Schiffe aus fernen Ländern brachten prachtvolle Stoffe, duftende Gewürze und Wein, so
schwer und süß wie Nektar.
„Oh, wer so gut auf meinen Schmuck aufpasst, für den wird sich schon eine Aufgabe finden“, erwiderte Fräulein Ebba.
Ihr Lächeln spiegelte sich im Gesicht der Königin wider und ließ es ein wenig weicher aussehen.
„Wie du meinst“, schloss Kristina das Gespräch. Schwungvoll stand sie auf und ging um den Tisch herum, bis sie direkt
vor Elin stand. Erst jetzt fiel Elin eine seltsame Unregelmäßigkeit auf: Die rechte Schulter der Königin stand ein
wenig höher als die linke. War Kristina verletzt?
„Wie alt bist du?“
„Fünfzehn, Ihre Majestät.“
„Lass das Knicksen und sieh mich an! Sag mir ganz ehrlich: Warum hat dich Leven wirklich von Gudmunds Hof geholt?“
Elin holte tief Luft. Blitzschnell überlegte sie sich eine Hand voll höflicher Antworten, aber jede von ihnen klang falsch.
Schließlich entschied sie sich für die einfachste.
„Weil ... viele Leute zugeschaut haben. Der Pfarrer war da und zwei andere Gutsbesitzer, die beratschlagten, was mit mir
geschehen sollte. Sie waren sehr beeindruckt von Herrn Levens Mildtätigkeit und Güte.“ Die Königin warf den Kopf zurück
und brach in schallendes Gelächter aus.
„Hör dir das an, Belle!“, rief sie Ebba Sparre zu. „Dumm ist sie auch nicht. Oh, das Mädchen wird es auf Tre Kronor
wahrhaftig nicht leicht haben!“
c) Verlag Ravensburger, 2006
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